Fiktion formt Wirklichkeit

Als junger Mensch lernte ich Kochmützen kennen. Die traditionelle Kopfbedeckung der Köche war damals eine hohe Röhre aus weißem Baumwollstoff. Der untere Teil war glatt, der obere vertikal gefaltet. Diese Mützen wurden nach dem Waschen gestärkt und sorgfältig gebügelt. Sie hatten dann die Festigkeit von hartem Papier oder leichtem Karton. Nur in diesem Zustand würde ein professioneller Koch seine Mütze aufsetzen.

Frisch gekauft oder vor dem Stärken sahen die Mützen – in den Augen der Köche – lächerlich aus. Das Oberteil bedeckte dann den Kopf des Trägers wie ein Pfannkuchen. Wer eine solche Mütze in der Küche trug, sorgte für große Heiterkeit unter seinen Kollegen.

In Filmen, im Fernsehen und immer wieder auch auf Werbeaufnahmen sah und sieht man jedoch Köche, mit genau solchen Mützen. Gewissenlose Regisseure, unbedarfte Werbefuzzis und andere Kleinkriminelle schufen so wirkmächtig ein Zerrbild des Kochs, das sich unauslöschlich ins kollektive Gedächtnis unserer Kultur einbrannte.

Und das Unvermeidliche geschah: Die lachhafte Mütze setzte sich durch. Bei einer Google-Bildersuche (Kochmütze) wurden 390 Mützen gezeigt.  29 davon entsprachen der „korrekten“ professionellen Form. Mehr als 13 Mal so viele zeigten Ballon-, Pilz- oder Pfannkuchenmützen.  Die Bildersuche „Küchenchef“ beruhigte mich dann doch wieder ein wenig. Die echten Köche trugen auf den Fotos – bis auf wenige Ausnahmen – echte Kochmützen.

Vielleicht zeigt die Suche nur, dass das Kochen heute als Hobby sehr populär geworden ist. Und dass die Amateurköche sich am Kunstbild des Kochs orientieren, wenn sie ihrem Hobby nachgehen.

Sie zeigt aber auch den Unterschied zwischen dem Bild einer Sache und der Sache selbst und wie das Bild einer Sache selbst zur Sache wird. Und das gibt mir ein flaues Gefühl, was die Verlässlichkeit all der anderen Gewissheiten angeht, die so im Umlauf sind.

Gewissheit über bestimmte Sachverhalte erlangen wir durch Bestätigung. Wenn mehrere Menschen – scheinbar unabhängig voneinander – einen Sachverhalt bestätigen, dann gehen wir in aller Regel davon aus, dass der Sachverhalt richtig ist. Es liegt auf der Hand, dass das nicht immer stimmt. Ein Beispiel dafür sind die so genannten sozialen Wahrheiten. Damit beschreiben Soziologen Vorurteile. Die sozialen Wahrheiten haben eine große Überzeugungskraft. Gegen ein weit verbreitetes Vorurteil haben die Wahrheit oder die differenzierte Betrachtungsweise keine Chance.

Besonders kurios sind solche Gewissheiten wenn es um scheinbare, in Wirklichkeit aber erfundene Traditionen geht. Dazu zählt der traditionelle schottische Männerrock Kilt, der erst im 17. Jahrhundert nachgewiesen ist und der griechische Tanz Sirtaki.  Er wurde 1964 für den Film Alexis Sorbas erfunden. Seitdem gilt er weltweit als „der“ traditionelle griechische Volkstanz schlechthin – interessanterweise auch bei den Griechen.

Ein Stein aus Südamerika, den der Künstler Wolfgang Kraker 2007 als Teil des Kunstprojekts „Global Stone“ im Berliner Tiergarten aufstellte, wurde 2012 von Mitgliedern der Pemonen-Indianer zurück gefordert. Er sei ein Heiligtum des Stammes.  Das fällt schwer zu glauben, denn der Künstler hat den Stein mit Zustimmung des Indianerstammes 1999 auf ein Schiff verladen und nach Deutschland transportieren lassen. Auch hier wurde die Tradition vermutlich ganz einfach erfunden.

 

Weblinks:
Google-Suche Kochmütze
http://de.wikipedia.org/wiki/Sirtaki
www.tagesspiegel.de/berlin/streit-um-stein-in-tiergarten-ein-schoener-brocken/6792800.html

About Eilan

Eilan Belhaus ist Dichter und Wortspieler, Poet und Beobachter. Er erforscht die Welt meditativ und lädt Dich zu seiner Welt ein. Eilan freut sich über Kommentare und darauf, in Deine Welt eingeladen zu werden.
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