Das globale Dorf

Als ich zum 1. Mal in Marburg war, ging ich staunend durch die schöne Altstadt. Viele der Häuser waren aus dem 18. Jahrhundert oder älter. Wie schön dachte ich, wie schön muss es doch gewesen sein, damals zur Zeit von Goethe zu leben. Doch dann kamen mir rasch Zweifel. Wie eng doch die Häuser zusammenstehen! Wie sehr die Leute einander nicht nur durchs Fenster, sondern wie sie sich gegenseitig gewissermaßen in den Suppentopf geguckt haben müssen! Tratsch und Gerüchte, erdrückende gegenseitige soziale Kontrolle, Unfreiheit, Duckmäusertum, Spießigkeit, Selbstgerechtigkeit, Heuchelei – diese Gedanken kamen wie eine Lawine über mich. Nein, es war sicherlich nicht schön, zu Zeiten von Goethe in Marburg zu leben. Die Idylle hübscher Häuser täuscht.

Die relative Freiheit, die wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts genossen haben, war mir da schon sehr viel lieber. Man konnte mehr oder weniger machen was man wollte, solange man dadurch niemandem schadete. Es gab so etwas wie Privatleben, Toleranz und Respekt.

Doch leider ist diese Zeit vorbei. Wir sind wieder im 18. Jahrhundert gelandet. Tratsch und Gerüchte, gegenseitige soziale Kontrolle, Unfreiheit, Spießigkeit, Selbstgerechtigkeit und Heuchelei – sie feiern im Internet fröhliche Urständ. Ich muss nur verschiedene Fora besuchen und mir für eine kurze Zeit die Kommentare ansehen. Lange halte ich das eh nicht aus. Meist findet ein Wettbewerb in den Disziplinen Eitelkeit und Niedertracht statt. Die Versprechungen des Internets vom globalen Dorf haben sich auf eine für mich erschreckende Art und Weise erfüllt.

About Eilan

Eilan Belhaus ist Dichter und Wortspieler, Poet und Beobachter. Er erforscht die Welt meditativ und lädt Dich zu seiner Welt ein. Eilan freut sich über Kommentare und darauf, in Deine Welt eingeladen zu werden.
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