Der letzte Post von Eilen Bethaus datiert auf Januar 2016. Wieso liegen mehr als zwei Jahre Schweigen zwischen dem Artikel über den Shopping-Wahn und diesem?
Neben den üblichen Gründen, aus denen Blogs vernachlässigt werden, gibt es noch einen Hauptgrund. Und der wiegt schwer. Es ist die Bobachtung, dass meine Welt auseinander fällt. Mir wird schwindlig zu sehen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Welt verändert, und zwar nicht zum Guten.
Wenn ich bisher ein wenig gegrantelt habe über die Missstände der Welt, so lag dem die stille Überzeugung zugrunde, dass zwar aber einiges falsch läuft, die Welt aber grundsätzlich in Ordnung sei. Ich hatte sozusagen ein kritisch-positives Weltbild. Das ist leider stark beschädigt. Es geschehen inzwischen Dinge, die ich nicht für möglich halten wollte, wie etwa die Wiederkehr der „Herrscher“, das Wanken der freiheitlichen Demokratie oder die vollendete Zurichtung der Menschen zum Konsumenten. Und als ich mich auf die Suche nach dem warum und wieso gemacht habe und dabei Erfolg hatte, hat es mir die Sprache verschlagen. So ist das mit den unvorsichtigen Fragen, sie führen einem in unbekanntes Gelände und wenn man die Antworten darauf findet, packt einem mitunter das kalte Grausen.
Eine dieser Fragen war die nach dem Ursprung des Kapitalismus. Ich sah in dem ungezügelten Kapitalismus der neoliberalen Art – wie er seit dem späten 80er Jahren auch in Europa heimisch wurde – eine ernste Bedrohung der freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung. Er schafft Ungleichheit und reißt die Gesellschaft auseinander. Er fördert extremen Reichtum auf Kosten der schwächeren Teile der Gesellschaft. Er korrumpiert die politischen Institutionen und legitimiert seinen Raubzug durch „wirtschaftsfördernde“ Gesetze. Er schwächt die Rechtsstruktur des Staates mithilfe der Politik. Und so weiter, und so weiter…
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind drei Grundsteine unserer modernen, demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft. Wenn ich diese Begriffe betrachte muss ich mich fragen, woher stammen sie, wodurch haben sie gesellschaftliche und politische Wirksamkeit erlangt, wer hat sie eingeführt und mit welcher Absicht? Freiheit z.B. ist immer ein Ausdruck von Macht. Denn Freiheit ohne Macht ist bedeutungslos. Die längste Zeit der menschlichen Geschichte war Freiheit an Besitz gebunden. In der Demokratie des alten Athen waren nur die Besitzenden politisch mündig. Weder Frauen noch Sklaven nahmen an den entscheidenden politischen Prozessen teil.
Nach der Ideologie der allgemeinen Menschenrechte sind alle Menschen gleich an Rechten und Freiheiten, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Nationalität oder religiösem Bekenntnis. Die Gleichheit aller Menschen ist ein relativ junger Begriff. Als Basis der Macht diente die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte die Ungleichheit. Die Monarchen aller Zeiten beriefen sich auf die besondere Gnade Gottes, auf ihre besondere Blutslinie und Abstammung, die sie von ihren Untertanen auszeichnete und in die Ihnen das Recht zu Herrschen gab. Auch Rasse, Hautfarbe oder Religion, ebenso nationale Zugehörigkeit eignen sich hervorragend dazu, einen Machtanspruch zu begründen.
In der Renaissance wuchs eine Klasse von wirtschaftlich erfolgreichen Kaufleuten heran. Zwar konnten diese, wie beispielsweise die Fugger, politisch indirekten Einfluss ausüben, indem sie die Monarchie finanziell von sich abhängig machten. Aber selbst herrschen durften sie nicht. Geld allein hatte damals keine Legitimationskraft. (http://geschichte-wissen.de/blog/das-handelsreich-der-fugger) (http://geschichte-wissen.de/blog/das-handelsreich-der-fugger) Der Griff zur politischen Macht wurde erst mithilfe der Formulierung der Menschenrechte möglich. Wenn alle Menschen gleich sind, hat niemand von Geburt an das Recht zu herrschen.
1623 wurde in Amsterdam der Handel mit Wertpapieren und damit der Kapitalismus erfunden. Religiöse Grenzen und nationale Abschottung sind schwerwiegende Handelshindernisse. Kaufleute brauchen und üben Toleranz und Weltoffenheit. Verlässliche Gesetze, unabhängige Justiz, persönliche Freiheit wurden massiv von den Kaufleuten gefordert und gefördert. Es war eine weltweite Erfolgsgeschichte. Bis ins frühe 21. Jahrhundert orientierte sich die Welt weitgehend am Modell der freiheitlichen Gesellschaft. Letztendlich sind unser moderner Staat, unsere Gesetze und unsere Gesellschaftsordnung eng verwoben und undenkbar ohne den Kapitalismus.
Doch dieses Modell hatte von Anfang an eine Schattenseite und war extrem unausgewogen. Denn die großartigen wirtschaftlichen Erfolge Erfolge der internationalen Handelsgesellschaften der Renaissance und des frühen Barock basierten nicht nur auf der Freiheit der Kaufleute, sondern auf der Unfreiheit der Völker Nationen, die sie ausbeuteten. Der Hort der Freiheit – die Vereinigten Staaten von Amerika – war wirtschaftlich erfolgreich durch Sklavenwirtschaft. Ihr erster Präsident, George Washington besaß bis zu 390 Leibeigene. Die holländischen Kornhändler des 16. Jahrhunderts wurden reich, weil die baltischen osteuropäischen Landarbeiter nicht bezahlt wurden. Die Pracht der belgischen Hauptstadt Brüssel ist das Resultat hemmungsloser Ausbeutung der Kolonien. Selbst liberale Vordenker wie Voltaire hatten keine Probleme mit dem Sklavenhandel. Und die meisten unserer Konsumgüter sind deshalb so billig, weil viele davon unter Bedingungen hergestellt werden, die von der Sklaverei nicht weit entfernt sind.
Die gegenwärtig immer noch prägende Rolle in dieser Gesellschaftsform haben die Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Land kann mit Recht als Plutokratie, als Herrschaft des Geldes, beschrieben werden. Amerikanische Politiker – vom einfachen Kongressabgeordneten bis zum Präsidenten des Landes – sind vollständig von reichen Geldgebern abhängig; diese finanzieren ihren Wahlkampf. Und diese Geldgeber unterstützen die Politiker nicht aus Menschenfreundlichkeit oder Sentimentalität. Sie wollen dafür einen Gegenwert in Form von politischen Entscheidungen und Gesetzen, die ihnen Vorteile bringen. Der „mächtigste Mann der Welt“ ist nicht der Präsident der Vereinigten Staaten, sondern derjenige, der ihn finanziert hat – etwa Ed Koch oder andere mächtige Industrielle. Auch der von uns hochverehrte Präsident Barack Obama hat seinen Wahlkampf nicht aus eigener Tasche finanziert. Seine Sponsoren kamen überwiegend aus dem Silicon Valley. Er zahlte dieses Geld zurück, indem er Aufträge zur Überwachung der Telekommunikation vergab.
Die amerikanische Freiheit ist die Freiheit amerikanischer Unternehmen, weltweit ohne Handelshemmnisse zu verkaufen. Für alle anderen ist es die Freiheit, überall auf der Welt amerikanische Waren zu kaufen. Privatisierung ist für amerikanische Unternehmen synonym mit Freiheit. In Amerika ist nahezu alles privatisiert. Das Gesundheitswesen sowieso, die Polizei und auch die Gefängnisse sind weitgehend privatisiert. Nirgendwo auf der Welt sind die Gefängnisse so voll wie in den USA. Warum nur? Die USA wollen diese „Freiheit“ gerne zum Standard der Welt machen. Der Staat als solcher gilt als Hindernis und ist klein zu halten und nach Möglichkeit zu bekämpfen. In Europa herrscht – nach Ansicht vieler US-Amerikaner – der Sozialismus! Eine für sie offensichtlich furchtbare Vorstellung.
Doch auch hierzulande geht es voran. Wenn eine deutsche Bundeskanzlerin davon spricht, dass unsere Demokratie marktkonform sein muss, dann spricht sie damit nur eine unbequeme Wahrheit aus, an die sich der Bürger noch nicht genügend gewöhnt hat: Die Demokratie wurde verkauft. Die Macht hat der Markt.
Erschwerend kommt hinzu, dass der moderne Mensch sich vom Bürger zum Konsumenten entwickelt hat. Eine Weiterentwicklung würde ich das nicht nennen wollen. Der Konsument von heute versteht unter Freiheit tatsächlich die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Waren, Marken und Anbietern wählen zu dürfen. Damit sind wir nicht mehr weit davon entfernt, die eigentliche Freiheit zu verlieren.
Ursprünglich war das Versprechen der freiheitlichen Demokratie neben Freiheit, Gleichheit und Solidarität auch Wohlstand für alle. Wobei der Wohlstand gewissermaßen das Resultat und gleichzeitig der Beweis der Richtigkeit der freiheitlichen Gesellschaft war: uns geht es gut, weil wir das bessere System haben. Inzwischen frisst das System seine Kinder. Seit den 90er-Jahren öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich auch in Deutschland immer weiter. Nachdem das sozialistische System in Osteuropa gewissermaßen implodiert ist, gibt es keine Rechtfertigung, dass man sich von Seiten der Besitzenden irgendwelchem Beschränkungen unterwerfen sollte.
Inzwischen ist China angetreten zu beweisen, dass Konsum und Wohlstand auch ohne politische Freiheit und ohne Menschenrechte möglich sind. Wozu braucht man politische Freiheit, wenn man doch alles kaufen kann, was es gibt, wenn man reisen kann, wohin man will? Wozu braucht man Menschenrechte, wenn die Partei doch so fürsorglich ist? In China erprobt die Regierung gerade ein soziales Bewertungssystem für alle Bürger
Links
Social Ranking in China
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Die Geschichte des Kapitalismus