Ich hatte angekündigt, mich weiter mit Twitter zu beschäftigen. Es ist aber eher so, das Twitter mich beschäftigt. Twitter hat mehr Suchtpotenzial als Alkohol, sagt die Wissenschaft. Also muss es stimmen – oder?
Als ich letzte Mal in der Buchhandlung war, vergaß ich nach einem Buch über Twitter zu fragen. Ja, ich weiß, kann man über das Internet bestellen. Nein, aber bei Amazon will ich nicht kaufen. Meiner Ansicht nach verursachen solche Unternehmen einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden. Sie fördern prekäre Arbeitsverhältnisse – sowohl in Ihren Lagern – das Wort ist so doppelbödig gemeint wie nur möglich – als auch bei den armen Schweinen, die die Sachen als Subunternehmer gewissenloser Geschäftemacher ausliefern müssen. Das ganze Geld, das Amazon und viele andere Großunternehmen mit internationalem Hintergrund erwirtschaften, verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus den Wirtschaftskreisläufen, an denen der Durchschnittbürger partizipiert. Es ist ein gigantisches Verarmungsprogramm. (Das musste einfach mal raus.)
Aber ich schweife ab. Es geht mir um Twitter.
Ich stelle mir als Einstiegshilfe so etwas wie ein Buch „Twitter für Dummies“ vor. Denn Twitter ist komplexer als ich Anfangs dachte. Es gibt eine Reihe von Begriffen und Abkürzungen, die ich erst zum Teil entschlüsselt habe. Ein solcher Begriff ist Real Life (Kürzel: RL). Es gibt das Leben auf und in Twitter, und das richtige Leben. Und in welchem Verhältnis die einzelnen Twitterer beide Leben auseinanderhalten oder nicht, ist recht interessant.
Ich selbst bin sehr naiv in die Twitterwelt hineingestolpert. Mein Account trägt brav meinen Namen, meine Adresse ist mein „Nome de Plume“ – Eilan Belhaus. Inzwischen habe ich meinen Avatar geändert. Zuerst verwendete ich ein kleines Foto von mir, nun sieht man das Bild einer barock geformten Blattmaske. Dieser Wasserspeier ziert einen kleinen Brunnen. Ganz verborgen im tropischen Schauhaus des botanischen Gartens Karlsruhe speit sein Mund einen dünnen Strahl Wasser in eine etwa handgroße, halbrunde Schale, von der es in ein kleines viereckiges, aber überraschend tiefes Becken tropft. Das Wasser darin ist immer kühl.
Seit meinem 16. Lebensjahr komme ich an diesen Brunnen. Es gab Pausen von zehn oder mehr Jahren zwischen den Besuchen, doch wann immer ich kann, bin ich dort. Das Schauhaus mit dem Brunnen ist eine Oase der Ruhe für mich. Reisfinken und Chinesische Nachtigallen zwitschern leise in der nahen Voliere. Früher gab es noch Zwergwachteln in der dichten Vegetation, frei lebten sie zwischen Bananenbäumen, Farnen und Orchideen. Ab und zu hörte man das Krähen des kleinen Hahns. Das Wasser plaudert leise einen melodischen Sprechgesang fallender Tropfen.
Über die Jahrzehnte wuchs der Maske ein Bart aus Moos und Algen. Darin verfängt sich der Wasserstrahl nun hin und wieder; dann verstummt das Lied des Brunnens für einige Momente.
Äh, wo war ich stehen geblieben? Genau, bei Twitter und RL.
Für einen Teil der Nutzer ist Twitter eine Verlängerung ihres realen Lebens – ein weiterer Kanal, sich mitzuteilen, Kontakt zu halten und Kontakte zu knüpfen. Das sind die Leute, die unter ihrem echtem Namen twittern. Für sie ist Twitter ein Teil des „RL“. Oft sind diese Leute auch privat gut untereinander vernetzt.
Eine weitere Gruppe benutzt Twitter ausschließlich geschäftlich. Diese Nutzer posten regelmäßig (die meist immer gleichen) Tweets über ihre tollen Business-Ideen. Es scheint sich dabei oft um so genanntes Multi Level Marketing zu handeln – eine Art Verkauf im Schneeballsystem, mit einer Kaskade von Provisionsanteilen, bei dem man zunächst den Bekanntenkreis kommerzialisiert.
Die für mich interessantesten Nutzer aber sind jene, die ein Pseudonym benutzen. Sie leben sich auf Twitter so richtig aus. Ja, es gibt auch echte Ferkel dazwischen, aber die kann man ja entfolgen oder spamblocken. Dass man nicht weiß, wer sich hinter den Accounts verbirgt, macht sicher einen Teil des Reizes aus. Es ist wie bei einem Maskenball.
Man weiß ziemlich bald, in welcher Stadt diese interessanten Personen wohnen: Köln, München, Berlin… Man lernt auch die Charaktere kennen und findet manche von ihnen richtig sympathisch. Vielleicht aber täusche ich mich auch bei einem Teil der Leute, denen ich folge. Manche Charaktere sind so „eindeutig“ und immer gleich, dass sie mir „zu echt“ wirken. Sie haben etwas von einer Comicfigur an sich. Aber, wenn dem so sein sollte – so lange sie unterhaltsam sind, lass ich mich gerne täuschen.
Das Thema läuft nun unweigerlich auf meine eigeneTwitter-Person hinaus. Die Fragen, wer bin ich bei Twitter, und wer will ich sein, und wenn ja, wie viele – darüber will ich mich ein anderes Mal verbreiten. Äh, übrigens, ich habe in den letzten 7 Tagen nur 16 Tweets abgelassen. Nochmal Glück gehabt… vermutlich hat mich dieser Tweet gerettet:
Frage an alle, die chier ien 30 Sekundentaakt twittrn & 20.000+ Tweets chaben. Keerprpflege?